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Lifestyle | 01.08.2022

Im Fahrradsattel durch die Pracht der Geschichte

Zwischen Orléans und Tours finden sich die schönsten Schlösser der Loire – wahrscheinlich sogar die schönsten der Welt.

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Schloss Chenonceau © Shutterstock

Und wisst ihr, für was das hier verwendet wurde?“ Unsere Führerin im Schloss Meungsur-Loire hält uns eine Art Handschaufel mit langem Schlitz in der Mitte unter die Nase. „Damit konnte man die goldenen Uniformknöpfe polieren, ohne den Stoff zu reiben“, erklärt sie. Meung-sur-Loire ist sicher nicht das beeindruckendste Schloss an der Loire, aber eines der lehrreichsten. In den original eingerichteten Zimmern, Werkstätten, Küchen, Wäschereien, Kerkern und sonstigen Räumen des ehemaligen Landsitzes des Bischofs von Orléans finden sich Aberhunderte von jenen Geräten, mit denen im 17., 18. und 19. Jahrhundert ein herrschaftlicher Haushalt geführt wurde. Hier gewinnen wir zum Einstieg einen authentischen Einblick in den Alltag vergangener Epochen. Unsere Radreise beginnt in der Heimatstadt der Heiligen Jungfrau von Orléans. Von der mächtigen gotischen Kathedrale hinab führen verwinkelte Gassen gesäumt von windschiefen Fachwerkhäuschen zu jenem Fluss, der Frankreich mit einer Länge von mehr als 1.000 Kilometern vom Zentralmassiv im Südosten bis über Nantes und Saint Nazaire am Atlantik durchschneidet. Zwischen Orléans und Tours finden sich die meisten und prächtigsten Schlösser an der Loire. Die Region, Jahr für Jahr von Millionen Gästen besucht, fördert seit einiger Zeit insbesondere einen ökologischen und nachhaltigen Tourismus. Dafür wurde ein ausführliches Radwegenetz angelegt und perfekt ausgeschildert, welches die beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten in überschaubaren Etappen verbindet.

DIE MUTTER ALLER SCHLÖSSER.
Unser Ziel am nächsten Tag ist gleich der erste überwältigende Höhepunkt. Das Königsschloss Chambord liegt im dazugehörenden 54 Quadratkilometer großen Jagdgebiet. Es bot Gesellschaften mit mehreren Tausend Teilnehmer:innen Platz und sollte für seinen Bauherrn, Kaiser Franz I., als architektonisches Ideal die Größe und Vormachtstellung Frankreichs in der Welt verkörpern. Der Habsburger Karl V. meinte bei seinem Besuch, das Schloss sei der Inbegriff dessen, was menschliche Kunst hervorzubringen vermag. Tatsächlich raubt der gigantische Renaissancebau mit seiner ungewöhnlich reichen Dachlandschaft den Betrachter:innen schier den Atem. Ein Eindruck, der sich beim Betreten fortsetzt: Im Mittelpunkt des quadratischen Haupthauses steht in weißem Marmor die erste Doppelwendeltreppe der Welt, deren Idee Leonardo da Vinci zugeschrieben wird und deren Konzept seit Kurzem auch im Innsbrucker Stadtturm zur Anwendung kommt. Trotz seiner Einmaligkeit diente Chambord nie als fester Sitz der König:innen, sondern als Jagd- bzw. Lustschloss. Auch Sonnenkönig Ludwig XIV. nützte es für seine ausschweifenden Feste. Geblendet vom Größenwahn vergangener Zeiten radeln wir weiter in die Königsstadt Blois. Ihr Château thront über den mittelalterlichen Häuschen der Altstadt und bietet schon vom Loire-Radweg aus ein begehrtes Fotomotiv. Das Schloss wird gerne als Schulungsobjekt für Stilkunde verwendet. An seinem mittelalterlichen Kern schließen sich Gebäudeteile im Stil der Renaissance, der Gotik und des klassizistischen Barocks an. Unter Ludwig den XII. wurde Blois die Hauptresidenz der französischen Könige und auch ein Schauplatz wüster Intrigen und Morde.

 

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L'islette © Shutterstock
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Schloss Chenonceau © Shutterstock

DAS CHÀTEAU DES DAMES.
Einen ganz anderen Charakter vermittelt unser nächster Wunschtraum großer und kleiner Prinzessinnen, Schloss Chenonceau. Hier prägten vor allem die Damen Diane de Poitiers und Katharina von Medici die wesentlichen Bauabschnitte. Um das elegante zum Teil auf einer Bogenbrücke über dem ruhigen Fluss Cher errichtete Wasserschloss ganz besonders zu erleben, müssen die Besucher:innen früh aus den Federn: Um 5 Uhr morgens paddelt die geführte Tour von „Canoe Company“ los, um rechtzeitig den Sonnenaufgang zu erwischen. Wir haben Glück: In der Morgenröte erblüht die Fassade des weißen Prachtbaus vor unseren Augen in nahezu unwirklichen Orangetönen. Zum Klicken der Fotoapparate mischt sich das Fauchen der Brenner der zahlreichen Heißluftballons, die majestätisch über das Schloss hinwegziehen. Aber auch in seinen Innenräumen ist Chenonceau eine Augenweide für seine Gäste: Unglaubliche teils mannshohe Blumengestecke zieren alle Räume und hauchen den alten Mauern frisches Leben ein. Verantwortlich dafür zeichnet Jean François Boucher, „Meilleur Ouvrier deFrance“ – bester Handwerker Frankreichs – ein Titel, der den besten ihrer Zunft verliehen wird. Besucher:innen in Chenonceau können bei dem ansteckend fröhlichen und wahrhaft beseelten Blumenkünstler auch eine Meisterklasse besuchen. Jean François pflückt dabei mit seinen Schüler:innen in der Schlossgärtnerei frische Blumen, die anschließend unter seiner fachkundigen Anleitung zu herrlichen Gestecken verarbeitet werden.

VAMPIRKIRCHE IN LOCHES.
Unsere Radtour führt uns entlang wogender Weizen und Gerstenfelder durch Chédigny, das Dorf der Rosen, in eine weitere Königsstadt: Loches. Ihre aus dem 12. Jahrhundert nahezu vollständig erhaltenen zwei Kilometer langen Wehrmauern umschließen die Cité Royale, ein einzigartiges kulturhistorisches Bauensemble. Auf den beeindruckenden Donjon (Bergfried) der mittelalterlichen Burg führen gesicherte Treppen in luftige 37 Meter Höhe. Von hier eröffnet sich eine fantastische Aussicht über das Städtchen und die mächtige romanische Stiftskirche. Sie ist wahrscheinlich die einzige Kirche der Welt, deren Hauptschiff von zwei achtseitigen Pyramiden überdacht wird. „Wir sagen Vampir-Kirche dazu, weil sie wie zwei Reißzähne wirken“, verrät Olivier Chable, Chef des Tourismusbüros. Später am Abend liegt die Cité Royale ganz im Ruhigen. Nur mehr 25 Menschen leben im Altstadtkern. Außerhalb der alten Mauern blüht dafür das künstlerische Leben. In den mit Kopfstein bepflasterten Gassen finden sich hinter den Tuffsteinfassaden zahlreiche Galerien. Auch der Italiener Caravaggio hinterließ hier zwei beachtenswerte Gemälde. Auf der nächsten langen Etappe legen wir bei „Le Cabri au Lait“ eine stärkende Pause ein. Hinter dem lustigen Wortspiel (Cabri = Ziege, au= mit, Lait = Milch) stehen zwei Aussteiger:innen, Sébastien Beaury und Claire Proust, die hier unter strengsten Aspekten einen Öko-Ziegenbauernhof betreiben und gerne hungrige Radfahrer:innen verköstigen. In unserem vorletzten Schloss L’Islette wandeln wir auf den Spuren der eher tragischen Liebe von Camille Claudel und François-Auguste-René Rodin. Das Bildhauerpaar verbrachte immer wieder gemeinsame Zeiten in dem romantischen Renaissancebau. Hier entstand auch Claudels bekanntestes Werk „La Petite Châtelaine“. Château L’Islette steht wie viele Loire-Schlösser im Privatbesitz und wird heute noch bewohnt. Mit ein bisschen Glück führen die Besitzer:innen Bénédicte und Pierre-André Michaud Besucher:innen persönlich durch die riesigen Räume und zeigen, wie echte Schlossdamen und -herren heute leben.

LIEBESGÄRTEN.
Bevor wir in Tour den Endpunkt der Radreise erreichen und die Drahtesel in einer der Hunderten offiziellen Rad-Service-Stationen der Qualitätsmarke „Accueil Vélo“ zurückgeben, steht noch ein abschließender Höhepunkt an: Das an und für sich wunderschöne Château de Villandry verblasst nahezu angesichts seiner prachtvollen Gärten. Die Anlage umfasst sieben verschiedene Bereiche. Beete werden von akkurat geschnittenen Buchsbäumchen mit einer Gesamtlänge von 52 Kilometern gesäumt. Am schönsten erscheint die Anlage vom Turm des Schlosses aus der Vogelperspektive. Besucher:innen staunen über die vier Quadrate der Liebe – die zarte, die leidenschaftliche, die unbeständige und die tragische – im Ziergarten oder nebenan über die streng geometrischen Figuren des Gemüsegartens, die aus rund 40 Sorten entstehen. Mehr als 115.000 Blüh- und Gemüsepflanzen machen Villandry zur vielleicht schönsten Gartenanlage der Welt. Hunderte Schlösser liegen an der Loire, rund 400 stehen Besucher:innen offen. Unwissende glauben: „Hast du eines gesehen – hast du alle gesehen.“ Mitnichten! Selbst diese kleine Auswahl beweist, dass jedes dieser ehrwürdigen Gemäuer seine eigene Geschichte, seinen eigenen Charakter aufweist. Die Annäherung an diese mit dem Fahrrad ist die beste Methode, in die alte Pracht einzutauchen.

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Radtour durch die Geschichte© Shutterstock